nd-aktuell, 4.10.23

#1 von arivle , 11.10.2023 02:25

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https://www.nd-aktuell.de/artikel/117689...er-pionier.html


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Die Karriere war zu Ende, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Mit dem Liedchen »Das schöne Mädchen von Seite 1« hatte Howard Carpendale 1970 den Deutschen Schlager-Wettbewerb gewonnen. Im gleichen Jahr spielte er in der Paukerklamotte »Musik, Musik – da wackelt die Penne« mit; einem Machwerk, das Oliver Kalkofe 2016 in der Tele 5-Reihe »Die schlechtesten Filme aller Zeiten« präsentierte. Der schnelle, trashige Erfolg erwies sich als kommerzielle Sackgasse. Die nachfolgenden Singles floppten.

Doch der südafrikanische Jugendmeister im Kugelstoßen war eine Kämpfernatur, und er hatte dem typischen Schlagerfuzzi, der nur Fremdkompositionen runtersang, etwas Entscheidendes voraus: Howard Carpendale versteht etwas von Musik. Der gelernte Elvis-Imitator kann Ohrwürmer komponieren und weiß zudem, wie man ein Mischpult bedient. Und so beschloss er vor 50 Jahren, 1973, die Dinge selber in die Hand zu nehmen – die Geburtsstunde des Songwriters und Produzenten Howard Carpendale.

Seinen kongenialen Partner fand er in Fred Jay. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der damals schon fast 60 Jahre alte österreichische Jude Dr. jur. Friedrich Alex Jacobson, dem es 1940 gerade noch rechtzeitig gelungen war, von Frankreich in die USA zu fliehen. Schon in jenen Jahren schrieb er nebenher Liedtexte. Als er 1963 nach Europa zurückkehrte und Programmdirektor des Westberliner Senders RIAS (»Rundfunk im amerikanischen Sektor«) wurde, hatte er im Gepäck eine dicke Kladde mit fertigen Songs.

Heile-Welt-Schlager waren die wenigsten. Mit »Es fährt ein Zug nach nirgendwo«, gesungen 1972 von Christian Anders, hielten Surrealismus und Depression Einzug in die ZDF-Hitparade. Die Single verkaufte sich 800.000 mal. Fred Jay begriff: Lieder, die von gescheiterten oder schwierigen Beziehungen handelten, sprachen vielen aus der Seele. Damit waren die Weichen für Howard Carpendales weitere Laufbahn gestellt; nebenbei machte er für eine Werbe-Aktion die Formel-3-Fahrerlizenz. In einer Zeit, in der die Unauflöslichkeit der Ehe offen in Frage gestellt wurde – in den Städten setzte die Scheidungswelle ein, die in den 80ern dann auch aufs Land überschwappte – und die Halbwertszeit von vorehelichen Beziehungen rasant abnahm, brauchte es einen Künstler, der den damit verbundenen Kummer und Zweifel glaubwürdig verkörperte.

Howard Carpendale war hierfür prädestiniert. Wiewohl optisch ein Sonnyboy, ging von ihm eine dezent melancholische, nachdenkliche Aura aus. Dazu passte die Stimme, die sanftmütig und verständnisvoll klang und sich lediglich bei dramatischen Refrains wie in »Ti amo« kraftvoll erhob. Wer so singen konnte, musste ein besonderer Mann sein. Der Gegenentwurf zum mürrischen Pantoffelhelden, der zuhause vorm Fernseher hing und Bier trank. So wurde »Howie« zur Projektionsfläche zahlloser Frauen, die sich ein anderes Leben wünschten.

Den Rest erledigten Fred Jays Texte. Carpendales Comeback-Hit – »Da nahm er seine Gitarre«, der 1973 entstand – hätte nicht besser gewählt sein können. Es geht darin um einen verschlossenen, bindungsunwilligen Mann (»Wo er herkam, wusste sie nicht, doch sie las in seinem Gesicht: Stell keine Fragen, ich will nichts sagen«). Die Folgesingle, »Du fängst den Wind niemals ein«, erzählt die gleiche Geschichte unter umgekehrten Vorzeichen. Diesmal ist es die Frau, die sich in Schweigen hüllt (»Wo du herkommst, das weiß ich nicht, du bist eine, die nicht viel spricht«), dafür aber gute Gründe hat (»Du hast einem zu sehr vertraut, hast ihn erst viel zu spät durchschaut, und nun glaubst du, ein jeder ist wie er«).

Durch solche Zeilen wurde Carpendale in einer Zeit, in der die gemeine deutsche Ehe noch ein Schweigekartell war, zum beredten Psychoanalytiker und Paartherapeuten. Es geht in den Texten um die für die Moderne typischen Probleme des Zusammenlebens, z.B. um die Frage, wie viel Freiheit eine Beziehung braucht oder verträgt (»Du willst dich selber finden, dich entfalten, du willst dein eigenes Leben selbst gestalten. Jetzt zählen für dich nur noch diese Dinge. Wie hat dann ein Zusammensein noch Sinn?«, in: »Wie frei willst du sein?«) und um schleichende Entfremdung (»Wie ist das geschehn, ich kann nicht verstehn, was jetzt anders ist. Ich halte deine Hand, doch sagt mir mein Verstand, dass du nicht bei mir bist«, in: »Fremde oder Freunde«).

Heute fällt es schwer, noch das Besondere in diesen Texten zu sehen. Zu selbstverständlich, ja, bisweilen banal klingt manches. Damals aber betrat Howard Carpendale mit seinen Beziehungsschlagern Neuland. Bis dato kannten Liebeslieder nur Schwarz oder Weiß, nur bitteren Trennungsschmerz oder himmlisches Glück. Carpendale war der Erste, der die Graustufen besang. Damit ebnete er den Weg für Songschreiber wie Herbert Grönemeyer und Wolfgang Niedecken. Mit dem Unterschied: Howard Carpendale kann wirklich singen. Wer ihn einmal live erlebt hat, weiß: Er ist wirklich ein fulminanter Elvis-Imitator, »ein Elvis-Imitator auf dem Weg zu sich selbst«, wie Max Goldt für seine Band Foyer des Arts 1986 dichtete.


Liebe Grüße
arivle 🕊






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